DepressionErnährung

Mein treuer Freund der Alkohol

girl with cup

Alkohol kommt in vielen Lebenslagen zur Hilfe. Er tröstet, bietet eine Schulter zum Anlehnen, muntert auf, macht lustig, nimmt die Schüchternheit, mildert Reize, bremst das Gedankenkarussell und bringt die inneren Stimmen und Gewissensbisse zum Schweigen. Das traurige Gemüt verwandelt sich in eine Frohnatur. In meiner Alkoholkarriere habe ich es ein paar Mal übertrieben, gehörte aber in meinem Freundeskreis eher zum Durchschnitt. Es gab nur ein Problem, ich habe den Alkohol schlechter weggesteckt, als andere.

Viele Regeln, viele Sinneseindrücke, zu hohe Ansprüche

Als ich klein war, war ich ein eher schüchternes Mädchen. Brav, gut erzogen und ich wurde schnell rot. Es gab viele Regeln. Ich erhielt Lob, wenn ich brav war und wie viele Kinder, wurde ich süchtig nach Lob. Süchtig, immer alles korrekt zu machen. Wer viele Regeln hat, kann vieles richtig machen. Da ich schon früher sehr aufmerksam war und viele Details mitbekam, musste ich auf jeden der Reiz, die ich wahrnahm, richtig reagieren. Ich fing also früh an, meine Sinne weiter zu trainieren und jeden meiner Schritte zu kontrollieren. Wenn ich einen Raum mit mehreren Menschen betrat, konnte ich in Sekundenschnelle die Stimmung im Raum spüren. Vollzog ich eine Handlung, vergewisserte ich mich anhand der Gesichtsausdrücke, ob mein Verhalten der Norm entsprach, oder nicht. Mehrere Gesichter konnte ich dabei in Sekundenschnelle gleichzeitig scannen. Redete jemand drei Tische weiter über mich, bekam ich das durch Blicke, Körpersprache und aufgegriffene Worte mit. Nebengeräusche oder sprechende Menschen konnte ich kaum abstellen. Reizüberflutung!

Die Überforderung der Reize und mein ständiges Streben danach, alles richtig zu machen, kosteten mich viel Kraft. Ich war als Kind zu früh zu strebsam und hatte nicht gelernt, mir Pausen zu gönnen oder einfach auch mal auf Regeln zu scheißen und nicht alles so ernst zu nehmen.

Die Entdeckung des Alkohols.

In der Pubertät kam mir ein guter Freund zur Hilfe, der gleich mehrere Probleme wegspülte. Alkohol half mir, meine Schüchternheit zu begraben, auf die mir auferlegten Regeln einen Haufen zu setzen und die Hochsensibilität gegenüber meiner Umwelt zu betäuben. Mit einer Pulle Bier oder ein paar Gläsern Sekt konnte ich meine Traurigkeit vergessen und aus meiner Zwangsjacke schlüpfen. Bereits wenige Minuten nach dem ersten Schluck setzte die leichte Betäubung ein und ich konnte mich entspannen.

Mister Al Kohol befreite mich und machte meinen Geist lebendig. Ich konnte ich sein und ich mochte mich betrunken. Ich war auf persönlicher Ebene witzig, voller Elan, glücklich, spontan und eine coole Freundin. Auf körperlicher Ebene machte mich das Dopamin aktiv, ich war weniger sensibel und konnte mich so entspannen. Ich mochte mich betrunken so sehr, dass ich mir als Jugendliche kaum vorstellen konnte, nüchtern auf Partys zu gehen. Und das war total legitim. Alk ist in der Gesellschaft so etabliert, dass es völlig normal ist, sich jedes Wochenende die Kante zu geben. Wer nicht raucht ist OK, wer aber nicht trinkt, wird schon komisch angeschaut.

stop thinking start drinking

Ich wollte das gute Gefühl steigern.

In meiner Jugend galt, wer nicht trinkt, wird zum Außenseiter. Und je mehr du verträgst, desto mehr Respekt haben die anderen vor dir. Gerade als Mädchen. Und ich hab viel vertragen. Nicht, weil ich cool sein wollte, sondern weil ich irgendwann trainiert war. Regeln, Gesetze, Strebsamkeit, Reizüberflutung, Nicht-abschalten-können, depressive Episoden, Zu-viele-Gedanken-im-Kopf, Die-Schnauze-halten-müssen, Nicht-Ich-sein-dürfen. Das alles war angetrunken erträglich. Wer an Alkohol gewöhnt ist, braucht irgendwann mehr. Auf diese Toleranzentwicklung folgt eine Erhöhung der Dosis, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

Schon damals hatte ich kein Gespür für meinen Körper. Ich war so sehr im Außen, dass ich mein Inneres nicht wahrnahm.

Und ich war der Meinung, ich bin hart im Nehmen. Zeigte keine Schwäche und hatte meine Maske, auch vor mir selbst. Ich spürte meine Körpersignale kaum und deshalb spürte ich auch mein Limit nicht. So früh, wie ich anfing, mich in Dingen zu trainieren und zu übertreiben, übertrieb ich auch mit dem Alkohol. Ich wollte das gute Gefühl, dass ich hatte, wenn ich trank, steigern. Dass das nicht funktioniert, brauche ich nicht weiter zu erklären.

„Was habe ich gestern gemacht?“

Meinen ersten Filmriss hatte ich während meiner Studienzeit. Ich konnte nicht fassen, wie ich unter einem Filmriss mein Leben weiterlebte, während der Kopf nicht mehr dabei ist. Ich schwor mir nie wieder zu trinken. Das hielt ein paar Monate, aber ohne Rausch war alles viel schlimmer. Obendrauf war ich mit dem Vorsatz, keinen Alk mehr zu trinken auch nicht mehr gesellschaftsfähig. „Wie, du trinkst nicht?“ Mit diesem Satz war ich zu einer Erscheinung eines anderen Planeten mutiert. Depression, Du-musst-Sätze, Regeln, Normen, Werte, sei angepasst, verhalte Dich so und so. Ich zwängte mich in ein Leben, das mir nicht passte und deshalb fing ich wieder an zu trinken. Ich brauchte die Rauschpause als Belohnung. Ich brauchte eine Pause von dem Scheiß, den ich eigentlich gar nicht machen wollte.

bar

Die Sauf-WG.

Ich hatte immer mal wieder Phasen, in denen ich mal mehr oder weniger getrunken habe. Ich konnte auch tagelang nichts trinken, deshalb würde ich mich nicht unbedingt als Alki bezeichnen. Alleine habe ich schon gar nicht getrunken, aber wenn das Fass auf einer Party einmal geöffnet war, kannte ich mein Limit nicht. Bis da plötzlich ein Schlüsselmoment war.

Ich hatte mich damals von meinem Freund getrennt und bin mit meiner Freundin in eine WG gezogen. Ich kam aus einer sehr ungesunden Beziehung, die mich viel Kraft kostete, daher waren unsere ersten WG-Nächte sehr feucht und nicht fröhlich. Wir tranken viel, um zu vergessen. Auch ihr ging es nicht gut. Mister Al Kohol tröstete uns durch die lauen Sommernächte auf Balkonien. Die Trennung kostete mich Energie. Wenn dein Körper schon seelisch belastet ist, ist ein zusätzlicher Alkoholabbau mit Schlafentzug das Topping. Ich hatte neben den

stechenden einseitigen Kopfschmerzen mit Übelkeit und Erbrechen schwere Alkoholdepressionen am nächsten Tag. Ich musste mir einbläuen, dass es mir nur wegen des Alkohols so schlecht ginge und ich einfach diesen Tag irgendwie überstehen muss. „Einfach nur entgiften, morgen ist alles wieder gut!“ Alles in meinem Körper richtete sich gegen mich, und zwar noch schlimmer als ich es bisher kannte. Ich habe mit meinen Freunden viel über diese schlechte Stimmung am nächsten Tag gesprochen. Ein paar kannten diese Tiefs, andere nicht. Fakt war, dass ich anfing zu realisieren, dass jeder verkaterte Morgen schlimmer war als ein nüchterner Abend in Schmerz und Trauer. Ich beschloss weniger zu trinken. Meine Freundin verstand das leider nicht. Wir stritten viel, weil ich als ihre Sauffreundin in den Streik getreten war. Unsere Freundschaft zerbrach daran. Ich zog aus.

Die Achtsamkeit drehte den einst schönen Rausch in Unwohlsein.

Seitdem ich diesen Schlüsselmoment hatte, schien sich etwas in meinem Körper verändert zu haben. Ich fing an, Alkohol als Feind zu betrachten und auch mein Körper wehrte sich gegen den Suff. Langsam nahm ich die Sätze ernst, die man sich jeden Morgen nach einer durchzechten Nacht schwört:

„Ich trinke nie wieder Alkohol.“

Mein Verlangen nach diesem betäubenden Gefühl war stets da, aber mittlerweile gab es so viele Erinnerungen an schmerzerfüllende Katertage, dass ich sehr vorsichtig im Umgang mit dem Teufelsgetränk wurde. Je vorsichtiger ich wurde, desto geringer war die erwartete positive Wirkung des Alkohols. Die schlechten Erinnerungen unterdrückten das angenehme Gefühl. Trank ich auf einer Firmenfeier ein Glas Sekt, drehte sich die ehemals angenehme leicht betäubende Wirkung in einen Zustand, der mir Angst machte. Ich wurde achtsam für Alkohol und spürte von Minute zu Minute, dass ich das lähmende Gefühl und die reduzierte Konzentrationsfähigkeit nicht haben wollte. Der angetrunkene Zustand machte mich regelrecht panisch.

Ich verstand zu dieser Zeit die Welt nicht mehr und versuchte die ehemals angenehme Wirkung wieder zu erzielen. Immer mal wieder experimentierte ich mit verschiedenen Spirituosen. Doch das positive angenehme Gefühl von damals blieb aus. Ich fühlte mich mit Alkohol im Blut nicht mehr wohl.

Alkohol stimuliert mein Belohnungszentrum.

Ich hatte dann nochmal eine Phase, eine Art Rückschlag, in der ich nicht primär aus traurigem Gemüt heraus trank, sondern aus einem Belohnungsantrieb heraus. Hatte ich eine beschissene und anstrengende Arbeitswoche, musste diese runtergespült werden. Der Belohnungseffekt war internalisiert, so ähnlich wie ein Ritual mit einem Kaffee oder einer Kippe. „Scheiß Woche, jetzt erstmal was trinken.“ Stress auf der Arbeit, viel Alkohol und wenig Schlaf führten wieder zu einer Phase schlimmer Gemütszustände. Obwohl das angenehme Gefühl ausblieb, trank ich zu dieser Zeit, um den Schmerz und den Missmut nicht zu spüren. Denn ich war in einer Jobfalle. Ich machte Arbeit, die mir zutiefst gegen den Strich ging und erkannte eine Parallele aus meiner Jugend. Man erlegte mir Regeln auf, die ich zähneknirschend befolgen sollte. Statt mich auszudrücken, zu kündigen oder einen anderen Weg einzuschlagen, brach ich an anderer Stelle aus. Ich spülte das schlechte Gefühl hinunter und arbeitete mit dieser Alkoholstrategie gegen mich. Das gab mir auch mein Körper zu verstehen. Du willst entspannt sein und dabei witzig? Voller Elan und spontan? Das war einmal und dieses Gefühl kam unter Alk nie, nie wieder.

Peu à peu beendet ich die Hassbeziehung zum Alk.

Zu verstehen, dass mir Alkohol nicht gut tut, war ein sehr schleichender und langer Prozess. Ich habe sozusagen den Alkohol ausgeschlichen. So, wie man es bei einigen Tabletten oder Antidepressiva tun muss.

Ich hätte wahrscheinlich auch nie von einem auf den anderen Tag aufhören können.

Dieser Zwang, dieses Trinkverbot wäre mir zutiefst gegen den Strich gegangen. Es wäre wieder eine Regel und diesmal von mir selbst aufgestellt. Dabei trank ich doch, um Regeln aus dem Kopf zu bekommen. Außerdem bin ich schon an kleineren Trinkpausen gescheitert. Ich hatte den Alkohol-YoYo-Effekt. Nach einer langen Durststrecke musste ich mich dann wieder richtig belohnen. Einen Kalten zu machen ging bei mir nicht. Außerdem empfand ich mich nie als besonders gefährdet. Ich trank nicht mehr als andere, warum sollte ich dann aufhören? Die Antwort war einfach: Es gab keinen Grund mehr. Das gute Gefühl war begraben.

Wie ist das heute?

Heute vertrage ich sehr wenig bis gar nichts. Die Stimmungsschwankungen, depressiven Phasen und dunklen Tage vertragen keine Extraportion Suff am Abend.

Ich weiß heute zu 100 %, dass mein Körper sich mit Händen und Füßen gegen die Suppe wehrt.

Ich bin nicht komplett abstinent, das wäre eine Regel, die ich mir nicht auferlegen möchte. Wäre es eine Regel, würde ich sie brechen. Schon aus Freheitsgedanken. Ich bin nicht straight, ich habe Ecken und Kanten. Ich habe keine Vorsätze, aber ich weiß eines: Trinke ich ein Glas Wein am Abend, habe ich eine Horrornacht. Dann finde ich kaum in den Schlaf und wenn ich mal schlafe, wache ich ständig auf und komme nicht in den Tiefschlaf. Ich kriege Kopfschmerzen und das meistens schon eins, zwei Stunden nach einem Glas Wein. Bei Schnaps oder Bier geht’s mir ähnlich. Trinke ich zwei Gläser, ist mein nächster Tag gelaufen. Mein Selbstvertrauen ist weg, ich habe eine Looserattitüde und schleppe mich mit dunklen und bösen Stimmen in meinem Kopf durch diesen Tag. Ich reagiere so heftig, weil ich über einen langen Zeitraum sehr wenig Alkohol getrunken habe. Meistens habe ich auf alkoholfreies Bier zurückgegriffen, um auch irgendwie gesellschaftsfähig zu bleiben. Du hast eine Pulle in der Hand, dann gibts auch keine blöden Fragen. Ich habe meinem Körper über die letzten zwei Jahre sehr, sehr wenig bis gar keinen Alkohol zugemutet und fange erst jetzt an zu spüren, was ein halbes Glas Bier oder Wein mit dem Körper anstellen kann.

Warum schreibe ich diese Geschichte?

Meine ehrlichen paar Zeilen hier sind für Dich, wenn Du Dich wiedererkennst. Ich schreibe diese Geschichte, weil ich Dir erzählen will, warum ich zum Glas gegriffen habe und dass ich mir damit einen Stein mehr in meinen holprigen Weg gerollt habe. Wenn wir anfangen zu erkennen, warum wir uns mal einen hinter die Binde kippen, merken wir ziemlich schnell, dass das Ergebnis des Betrunken seins den Zweck nicht erfüllt.

Ich habe erkannt, dass Alkohol für mich eine bittere Lüge ist. Er macht mein Leben nicht besser. Die Annahmen in meinem Kopf über Alk sind Gedanken, die abgrundtief falsche Erwartungen auslösen. Je lustiger ich am Abend war, desto mehr dachte ich nüchtern, ich müsste dieses Gesicht, die Maske, aufrechterhalten. Ich bin in die Schauspielerrolle gefallen und nahm  an, die Menschen um mich herum sind enttäuscht, wenn ich dieses Bild nüchtern eben nicht aufrechterhalten kann. Ich versuchte also auch fremde Erwartungen mit meinem Trinkverhalten zu befriedigen. Wenn wir uns durchs Trinken zu jemandem machen wollen, der wir gar nicht sind, oder in schwachen Momenten, in denen es uns nicht gut geht, etwas trinken, dann hilft uns das nicht weiter. Ganz im Gegenteil, es wirft uns um Tage zurück.

warum trinken wir?

Um Spaß zu haben, den wir momentan eigentlich nicht fähig sind zu haben, um offen zu sein gegenüber Menschen, denen wir eigentlich nicht offen sein können oder wollen, um unsere Probleme zu lösen, zu vergessen, zu unterdrücken, um auf Pause zu stellen, um uns von einer beschissenen Woche zu erholen und zu belohnen, weil wir Dinge tun, die wir nicht machen wollen. Aber vom Saufen und berauschen wird der Scheiß um uns herum nicht besser, ganz im Gegenteil. Der Körper hat auf Dauer zunehmend weniger Ressourcen, um dem Duck, den wir nicht aus dem Weg schaffen, zu begegnen.

Peace-Factor:

Wenn wir trinken, werden unsere schlechten Tage länger, unsere negativen Stimmen lauter und unsere Probleme, die wir haben, größer. Die Probleme können wir es erst gar nicht angehen, weil der Alk uns auch nüchtern lähmt und nicht nur im Moment des betrunkenen Zustandes. Sind wir nüchtern, müssen wir uns erholen, haben mit den Nachwirkungen zu tun, die uns daran hindern, Dinge aus dem Weg zu räumen oder unser Ändern zu leben.

Lass mal mehr Saft und alkoholfreien Wein trinken.

P.S. Alkfreien Wein gibts sogar beim Discounter

girl with a cup

| Photos by Lily Banse and Patrick Tomasso von Unsplash

Tags:

One comment

  1. […] im Leben passieren, bis du sie für dich lösen kannst. Zwei Kriterien habe ich für mich gelöst: Meinen alten Kumpel Al Kohol grüße ich nur noch von weitem. Will mir ein Alki an den Schlüppi, senden meine feinen Antennen ein SOS an die Zentrale. Auf die […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert